Der Urgroßvater bei der Roten Armee: Ein Sieger, der alles verloren hat

Naftali ist einer von 500.000 Juden, der als Soldat in der Roten Armee dient. Er hat nie die Anerkennung bekommen, die ihm zusteht.

Soldaten der Roten Armee feuern ihre Gewehre ab

Soldaten der Roten Armee in Stalingrad im Jahr 1942 Foto: Emmanuil Yevzerikhin/ITAR-TASS/imago

Naftali ist 23 Jahre alt, als er in den Krieg zieht. Es ist das Jahr 1941, und das na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sche Deutschland hat gerade die Sowjetunion überfallen. Naftali sieht es als seine Pflicht an, gegen den Faschismus zu kämpfen. Vielleicht bleibt ihm als junger Mann, als Soldat, auch nichts anderes übrig. Vielleicht hat er keine Wahl.

Damals ist Naftali in Achtubinsk stationiert, einer Stadt an der Wolga nahe Wolgograd, damals Stalingrad. Naftali ist einer von 500.000 Juden, die als Soldaten in der Roten Armee dienen, die gegen die Deutschen kämpfen.

Nach dem Krieg kehrt Naftali in die Stadt zurück, in der er vor 1941 lebte, in die Stadt, in der seine Familie auf ihn warten sollte, nach Lwiw. Er erfährt: Sie alle wurden umgebracht, keiner von ihnen hatte überlebt.

Naftali, mein Urgroßvater, war ein frommer Jude. Er betete, er sprach Hebräisch. Viel mehr weiß ich nicht über ihn, nur Fetzen, Fragmente, die der schweigsame Teil meiner Familie über die Jahre mal hier, mal da fallen ließ und die von mir behutsam aufgesammelt und verwahrt werden – die Lücken fülle ich mit meiner Fantasie, mit meinem Wissen, das ich aus Büchern habe.

Juden galten plötzlich als Verräter

1945, so viel weiß ich, gehört Naftali zu den Siegern – und doch hat er alles verloren. Bis zu seinem Tod wird ihn dies verfolgen wie ein Schatten. Von diesem Schatten wird er wohl etwas an seinen Sohn, meinen Großvater, weitergeben und ihn zu einem ängstlichen, sorgenvollen und harten Menschen machen. Ein Leiden, das nicht selbst verschuldet, sondern das Ergebnis fataler historischer Ereignisse ist.

Naftali gehört zu den Siegern – und hat doch alles verloren

Ich stelle mir vor, der Krieg ist vorbei, es ist Frühling, und Deutschland hat die bedingungslose Kapitulation unterschrieben. Für Naftali ist dies ein guter Tag, er muss kein Soldat mehr sein, endlich kann er jemand anderes werden. Vielleicht glaubt er an eine Zukunft, die besser werden kann als die Vergangenheit. Vielleicht hat er Hoffnung. Schon bald aber versteht er, dass eine gute Zukunft nicht für alle in der Sowjetunion vorgesehen ist. Eines Tages, vielleicht, wird er begreifen, dass er nie die Anerkennung bekommen wird, die ihm eigentlich zusteht.

Nach 1945 verloren Juden in der Roten Armee ihre Stellungen im Dienst, antisemitische Kampagnen wurden inszeniert. Tausende Juden verschwanden während Stalins Großem Terrors in Gulags. Juden waren nicht mehr die Brüder, die Seite an Seite gegen Hitler gekämpft hatten; Juden waren plötzlich Verräter.

Wochen wie im Rausch

Es war nie einfach, mit diesen Geschichten in der eigenen Familie umzugehen, mit den Brüchen und Leerstellen, über die am liebsten geschwiegen wird, weil das Sprechen über sie dem Schmerz eine Form, eine Gestalt geben würde. Aber in diesem Jahr ist es besonders schwer, absurd.

Manche Wochen im Jahr vergehen wie im Rausch. Diese, in der der Tag des Sieges gegen das nationalsozialistische Deutschland begangen wurde, war wie ein Horrortrip für mich. In Russland instrumentalisierte Putin das Andenken erneut für seine Propagandazwecke und startete in der Nacht zum 8. Mai einen Großangriff auf die Ukraine.

Stu­dent:in­nen in Deutschland hielten Cosplay-Events im Geiste der Proteste an der Columbia University in New York ab. Sie spielten Aufstand, riefen zur Intifada oder auch zur „one solution“ auf. Dass dies nach Endlösung, nach der Vernichtung von Juden klingt – bestimmt nur blöder Zufall. Zu allem Übel schaute ich mir, ob aus masochistischen Beweggründen oder aus Versehen, weiß ich nicht mehr, noch eine Berlin­dokumentation in der ARD-Mediathek an, die statt „Berlin – Schicksalsjahre einer Stadt“ besser „Deutschland, ein Opfermärchen“ hätte heißen sollen.

Dieses Jahr – es fühlt sich an wie ein langer Albtraum, denke ich. Dann kommt mir Naftali wieder in den Sinn, und ich bin stolz und traurig zugleich.

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Redakteurin für Gesellschaft im Ressort taz zwei. Schreibt über postsowjetische Migration, jüdisches Leben und Antisemitismus sowie Osteuropa. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.

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